Verunsichert

von Carsten Griese

Dienstag, 27.01.2015

Holocaust
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Kranzniederlegung an der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem

Heute ist Internationaler Holocaust-Gedenktag. Rund 28.000 Juden leben in NRW. Sie haben kein Gemeindeleben wie die Muslime oder Christen. Kein Gemeindefest, kein Grillnachmittag, kein Gottesdienst, ohne dass die Polizei die Veranstaltungen absichert.

Schon die Kinder lernen, dass man die Synagoge nur durch eine Sicherheitsschleuse betritt. Rabbi Avichai Apel lebt und arbeitet in Dortmund. Er engagiert sich im jüdisch-islamischen Dialog. Im Gespräch mit Carsten Griese beschreibt er, wie er die Anschläge in Paris erlebt hat:

Fürchterlich war der Anschlag in dem Supermarkt, weil es an einem Freitagnachmittag war. Das ist eine sehr romantische Zeit für viele Juden. Diese Tradition in den Laden zu gehen, etwas für den Schabbat zu kaufen oder Süßigkeiten für die Familie. Viele Kinder gehen auch gerade in dieser Zeit in den koscheren Laden, um Kleinigkeiten zu kaufen. Es ist ein Anschlag, der sehr gezielt am Freitagmittag, am Abend vor dem Schabbat, geplant wurde. Wir haben mitbekommen, dass man die Synagoge am Freitagabend in Paris zugemacht hat und kein Gottesdienst stattgefunden hat. Seit 1944 hat es so etwas nicht in Paris gegeben.

Man weiß, man ist nur 500 Kilometer von Paris entfernt. Wir sehen Dortmund nicht als das erste Ziel der Terroristen, aber dass die Terroristen die jüdischen Institutionen als Ziel ansehen, ist uns klar. Dass sie das nun auch umsetzen, ist eine neue Phase für uns. Für uns als Gemeinde ist das nicht einfach. Wir machen uns Gedanken. Wir haben eine gute Zusammenarbeit mit dem neuen Polizeipräsidenten.

Menschen rufen an und fragen mich: Soll ich mein Kind jetzt in die Gemeinde schicken? Ist die Gemeinde gesichert genug? Ein junger Mann hat mich am Samstag gefragt: “Was macht die Gemeinde, damit so etwas hier nicht passiert?“ Und was kann ich ihm sagen? Dass wir nichts machen können. Es ist einfach nicht sicher. Ich denke, auch in Paris waren die Leute sicher, dass so etwas nicht passieren wird.

Inwieweit kann ich die Kinder in die Schule schicken mit einer Kippa oder mit einem jüdischen Symbol? Das sind Fragen, die mir jetzt von den Eltern gestellt werden. Es sei in Paris dazu gekommen - warum nicht hier? Wir hoffen, dass es nicht dazu kommt, aber die Leute machen sich schon mehr Sorgen als vor den Anschlägen.

Am Schabbat hat ein sehr vernünftiges Gemeindeglied mir gesagt: „Ich bin nicht sicher, ob das Judentum in Europa noch Zukunft hat.“ Das hat mich erschüttert. So etwas von einem Israeli, von einem Amerikaner oder von einem Zuwanderer zu hören, das kann man noch verkraften. Aber dies hat mir ein Mensch gesagt, der mit seiner Familie schon mindestens 50 Jahre in Deutschland lebt.

Dienstag, 27.01.2015