Vergib uns unsere Schuld?

von Christof Beckmann

Samstag, 09.11.2024

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Bild: Montage KiP-NRW

Der Tag heute hat es in jedem Jahr in sich. Der 9.11. ist der Gedenktag an den Mauer-Fall, an die Ausrufung der Deutschen Republik, aber auch an die Reichspogromnacht 1938. Und wie man in tiefe Schuld geraten kann, bleibt bis heute eine brennende Frage.

INFO: Der 9. November markiert mit dem Waffenstillstand von Compiègne das Ende des 1. Weltkriegs 1918, erinnert die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann vor 100 Jahren und den Fall der Mauer 1989. Doch schaut man mit dem Datum von heute auch in einen der Abgründe der deutschen Geschichte: Die vom nationalsozialistischen Regime organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich. Von einer „ungeheuren Empörung der Düsseldorfer Volksgenossen“ berichtete die Rheinische Landeszeitung am 10. November 1938 In den Abendstunden sei es „zu spontanen Demonstrationen gegen die Juden“ gekommen. Mit „berechtigter Wut des Volkes“, hieß es, und in den Geschäften sei „radikal aufgeräumt worden“. In der heutigen Landeshauptstadt wurde die Synagoge gestürmt, die Inneneinrichtung zerstört. Und dann sei „durch einen Kurzschluss ein Brand entstanden“, log die Parteizeitung der Nationalsozialisten. Das jüdische Gebetshaus brannte – wie über 1.400 andere in ganz Deutschland vollständig aus. Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört, jüdische Deutsche wurden geprügelt, verhaftet und ermordet, Zehntausende wurden deportiert und in Konzentrationslagern inhaftiert. Es war der Beginn der beispiellosen Vernichtung von 6 Millionen Menschenleben.

Wie hat die Umwelt reagiert, was haben Kirche und Christenmenschen dagegen unternommen? In ihrem Hirtenbrief vom 23.08.1945 gestanden die deutschen katholischen Bischöfe ein: „Furchtbares ist schon vor dem Kriege in Deutschland und während des Krieges durch Deutsche in den besetzten Ländern geschehen. Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden. Schwere Verantwortung trifft jene, die auf Grund ihrer Stellung wissen konnten, was bei uns vorging, die durch ihren Einfluß solche Verbrechen hätten hindern können und es nicht getan haben, ja diese Verbrechen ermöglicht und sich dadurch mit den Verbrechern solidarisch erklärt haben.“ Der Rat der evangelischen Kirche begrüßt bei seiner Sitzung am 18. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen und hielt in seiner „Stuttgarter Schulderklärung“ fest: „Wir sind für diesen Besuch umso dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld mit großem Schmerz sagen wir, durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus. Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat. Aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Asking the Pope for Help

Was hat Papst Pius XII. gewusst – was hat er unternommen? Um seine Rolle während des Nationalsozialismus zu verstehen, forschte einer Historikergruppe der Uni Münster um Kirchenhistoriker Hubert Wolf in den Geheimarchiven des Vatikan. Sie wollten ein Enthüllungsbuch schrieben, fanden aber etwas, das eine größere Bedeutung bekam: Hilfebitten von verfolgten Menschen an Papst Pius XII., an den Vatikan, das Staatssekretariat oder auch an verschiedene andere kirchliche Stellen, die um meist finanzielle Unterstützung für die Flucht aus Deutschland und um Hilfe bei ihrer Ausreise baten. Häufig enthalten diese Schreiben bislang unbekannte Informationen über die Situation der Bittstellerinnen und Bittsteller, ihre Biographien, Familienverhältnisse und die erlittene Verfolgung. Sie sollen nun in einem Online-Projekt vollständig dokumentiert werden. Prof. Dr. Hubert Wolf und sein Team werden die schätzungsweise 15.000 Bittschreiben, die in den vatikanischen Archiven lagern, systematisieren und für die Öffentlichkeit aufbereiten. Das Projekt „Asking the Pope for Help“ möchte diese Menschen wieder sichtbar machen und ihnen eine Stimme geben. -> Über das Projekt

Kontakt: Universität Münster, Asking the Pope for Help, Domplatz 23, 48143 Münster, Tel: +49 251 83-22626, PROF. DR. DR. H.C. HUBERT WOLF, Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, E-Mail: hubert.wolf@uni-muenster.de.

Buch: Hubert Wolf, mit Aufsehen erregenden Funden und Forschungen in den Vatikanischen Archiven international bekannt geworden, führt durch 85 Kilometer Akten aus über tausend Jahren. Mit detektivischem Spürsinn geht er der Frage nach, warum hat der Papst geschwiegen hat: Hat er das überhaupt? Was wusste er? Die jüngste Freigabe der Akten aus dem Pontifikat Pius' XII. gibt Aufschluss: Hubert Wolf hat Tausende anrührende Bittbriefe von Juden an den Papst gefunden, deren Weg durch die vatikanischen Instanzen ermessen lässt, welche Informationen aus erster Hand in Rom landeten und wie man darauf reagierte. Das Buch beginnt mit diesen neuesten Funden. Wolf, Hubert: Die geheimen Archive des Vatikan - und was sie über die Kirche verraten. 978-3-406-82195-0, Erschienen am 21. August 2024, Verlag C.H. Beck, 240 S., 26 Euro.

Und vergib uns unsere Schuld? Kirchen und Klöster im Nationalsozialismus

Seit Mai 2024 stellt sich eine Sonderausstellung der Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Landesmuseum für Klosterkultur der Frage: Schließen sich der christliche Glaube und der Glaube an den Nationalsozialismus aus? Die groß angelegte Sonderausstellung arbeitet erstmals die komplexe Wechselbeziehung von Christentum und Nationalsozialismus für ein breites Publikum auf. Im Spannungsfeld von institutioneller Verantwortung und persönlicher Gewissensfrage stellt die Schau dabei kirchliches und „christliches“ Verhalten in den Kontext der Zeit und zeigt anhand prominenter Akteure und einfacher Gläubiger mögliche Motive für individuelles Handeln bzw. Nicht-Handeln. Zehn Fragen führen auf die Spuren von Verrat und Nächstenliebe, Kollaboration und Widerstand, Tätern und Opfern: Die Schau beleuchtet die Maßnahmen, mit denen die Nationalsozialisten den christlichen Glauben aus dem Alltag zu verdrängen suchten und fragt, welchen Einfluss christliche Motive beim Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatten. Zugleich zeigt sie aber auch, auf welche Weise die christlichen Kirchen und ihre Anhänger in die nationalsozialistische Unterdrückungs- und Vernichtungspolitik verstrickt waren. Ein weiteres Augenmerk liegt auf der institutionellen Aufarbeitung der Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus. Mehr: https://www.stiftung-kloster-dalheim.lwl.org/de/ausstellungen/kirchen-und-kloster-im-nationalsozialismus/

Adresse: Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Landesmuseum für Klosterkultur, Am Kloster 9, 33165 Lichtenau-Dalheim, Link: https://www.stiftung-kloster-dalheim.lwl.org/de/ausstellungen/kirchen-und-kloster-im-nationalsozialismus.

Buch: Stiftung Kloster Dalheim. LWL-Landesmuseum für Klosterkultur (Hrsg.): Und vergib uns unsere Schuld? Kirchen und Klöster im Nationalsozialismus, Regensburg 2024, Verlag Schnell & Steiner GmbH. Renommierte Historikerinnen, Theologen und Politologen diskutieren anhand von zehn Fragen erstmals umfassend das komplexe Verhältnis der christlichen Kirchen und Klöster zum Nationalsozialismus. Autoren: Oliver Arnhold, Olaf Blaschke, Ingo Grabowsky, Andreas Joch, Kirsten John-Stucke, Carolin Mischer, Sonja Raokczy, Hubert Wolf, 128 Seiten, ISBN 978-3-7954-3902-6, 19,95 Euro.

Ansprechperson: Besucher-Service (Di bis Fr, 10 bis 15 Uhr), Tel. 05292 / 9319-225, besucherservice.dalheim@lwl.org

Geöffnet: bis Sonntag, 18.5.2025, Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Eintritt: Erwachsene 10 Euro, Gruppen ab 16 Personen 8 Euro (pro Person), ermäßigt 5 Euro, Kinder/Jugendliche (bis 17 Jahre), Link: https://www.stiftung-kloster-dalheim.lwl.org/de/ausstellungen/kirchen-und-kloster-im-nationalsozialismus

Kontakt: Besucher-Service (Di bis Fr, 10 bis 15 Uhr), Tel. 05292 / 9319-225, besucherservice.dalheim@lwl.org

Anstehende Vorträge:

  • 10.11.2024, 11.30 Uhr: Vom Antijudaismus zum Antisemitismus: Anhand ausgewählter Beispiele geht der Historiker Dr. Michael Hagemeister traditionellen christlich geprägten antijüdischen Feindbilder und Denkmuster auf die Spur.
  • 16.02.2025, 11.30 Uhr: Hitlers und Himmlers Hexenwahn und die Erforschung der Hexenprozesse im Raum Dalheim: Die Greuel der Hexenverfolgungen missbrauchten die Nationalsozialisten im Kampf gegen die katholische Kirche. Dr. Rainer Decker stellt Auswirkungen auf die Erforschung der Hexenprozesse im Raum Dalheim vor.
  • 30.03.2025, 11.30 Uhr: Kirchenbau und Kirchenkunst in der Zeit des Nationalsozialismus: Der Vortrag der Kunsthistorikerin Dr. Beate Rossié beleuchtet die kirchliche Architektur und Kunst während des Nationalsozialismus.
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