Pater Mertes zieht Bilanz

von Stefan Klinkhammer

Donnerstag, 06.02.2020

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Pater Klaus Mertes SJ, Bild: KiP-NRW

Er war von 2000 bis 2011 Rektor des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg in Berlin: Pater Klaus Mertes, gebürtig aus Bonn, brachte vor genau 10 Jahren eine bundesweite Debatte ins Rollen.

INFO: Genau zehn Jahre sind es her, dass drei ehemalige Schüler der Berliner Jesuitenschule Canisius-Kolleg den Schulleiter Pater Klaus Mertes, über Fälle von Missbrauch durch zwei Patres der Schule informierten. Mertes machte die Taten publik und bat daraufhin in einem Brief an alle Schüler, die das Kolleg in den 1970er und 1980er Jahren besucht hatten, sich zu melden. Dies löste eine bundesweite Debatte über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland aus, aber auch in Schulen und anderen Institutionen.
Seit 2011 war Mertes Rektor des Jesuiten-Kollegs Sankt Blasien im Schwarzwald und gibt zum Schuljahresende nun die Leitung ab. Mertes werde nach einer Auszeit eine noch nicht näher beschriebene Aufgabe im Jesuitenorden übernehmen, erklärte der Provinzial der Jesuiten, Johannes Siebner. Mertes fand es nach eigenen Angaben schwieriger, mit der Ablehnung von Missbrauchsopfern umzugehen, als mit dem Vorwurf, Nestbeschmutzer der katholischen Kirche zu sein. Der Vorwurf „Nestbeschmutzer“ habe ihn wenig tangiert, „denn ich habe ja nicht den Schmutz gemacht“. Es sei anstrengender gewesen, „die nachvollziehbaren, aber auch nicht leicht zu ertragenden Hass- und Misstrauensgefühle von Opfern zu ertragen“.

Chronik der Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche

(KNA) Januar 2010: Der Leiter des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Pater Klaus Mertes, macht durch einen Brief an ehemalige Schüler den Missbrauchsskandal an seiner Schule bekannt. Jesuiten hatten in den 1970er und 80er Jahren Schüler sexuell missbraucht.

Februar 2010: Die Bischöfe bitten auf ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung wegen der Missbrauchsfälle. Der Trierer Bischof Stephan Ackermann wird Sonderbeauftragter für das Thema. Eine Hotline für Opfer wird eingerichtet.

März 2010: Die Kirche beteiligt sich am Runden Tisch, der von der Bundesregierung eingerichtet wird.

August 2010: Die Bischöfe verschärfen ihre „Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch“. Glaubhaft verdächtigte Geistliche müssen nun umgehend vom Dienst suspendiert werden.

September 2010: Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, schlägt einen „breiten Reflexionsprozess“ von Bischöfen, Priestern und Laien vor. Damit will die Kirche Vertrauen wiedergewinnen. Die Bischöfe stellen ein Präventionskonzept vor. Unter anderem soll jedes Bistum eine entsprechende Stelle einrichten. Gegründet wird auch ein „Präventionsfonds“ für besonders innovative kirchliche Projekte. Die Bischofskonferenz legt am Runden Tisch ein Konzept zur Entschädigung der Opfer sexuellen Missbrauchs vor. Dazu gehört die Zahlung eines Geldbetrags, der als „finanzielle Anerkennung“ des zugefügten Leids gelten soll.

Juli 2011: Die Bischöfe kündigen zwei Forschungsprojekte zur wissenschaftlichen Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Kirche an.

Dezember 2012: Die Ergebnisse des ersten Forschungsprojekts werden vorgestellt. Der Forensiker Norbert Leygraf kommt darin unter anderem zu dem Schluss, dass nur wenige katholische Priester, die Minderjährige missbraucht haben, im klinischen Sinne pädophil seien.

August 2013: Die Bischofskonferenz veröffentlicht abermals verschärfte Richtlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch. Danach sollen Kleriker, die Schutzbefohlene missbraucht haben, nicht mehr in den Seelsorgedienst zurückkehren dürfen, wenn „dieser Dienst eine Gefahr für Minderjährige oder erwachsene Schutzbefohlene darstellt oder ein Ärgernis hervorruft“. Ein komplettes Beschäftigungsverbot für sexuell übergriffig gewordene Priester nach dem Beispiel der US-Bischöfe lehnt die Bischofskonferenz ab.

März 2014: Die Bischöfe beauftragen einen Forschungsverbund um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Ziele sind eine Erhebung quantitativer Daten zur Häufigkeit und zum Umgang mit sexuellen Missbrauchshandlungen an Minderjährigen durch Geistliche. Darüber hinaus sollen Täterstrategien, Opfererleben und das Verhalten der Verantwortlichen untersucht werden.

2016: Eine erste Teilstudie wird vorgestellt. Diese hatte Missbrauchsuntersuchungen aus anderen Ländern in den Blick genommen. Danach waren die Täter in erster Linie Gemeindepfarrer und andere Priester (über 80 Prozent). Bei rund einem Drittel wurden eine emotionale oder sexuelle Unreife festgestellt, bei jedem fünften eine Persönlichkeitsstörung und bei 17,7 Prozent Merkmale von Pädophilie. Alkoholabhängig waren 13,1 Prozent der Täter.

September 2018: Bei der Herbstvollversammlung der Bischöfe stellen beteiligte Wissenschaftler die Ergebnisse der von den Bischöfen in Auftrag gegebenen Missbrauchsstudie vor. Demnach haben die Forscher 3.677 Betroffene sexueller Übergriffe von mindestens 1.670 Priestern und Ordensleuten in den Akten von 1946 bis 2014 gefunden. Die Bischöfe beschließen einen Sieben-Punkte-Plan, in dem sie sich unter anderem verpflichten, Betroffene des Missbrauchs und externe unabhängige Fachleute stärker in die Aufarbeitung einzubeziehen. Sie wollen auch klären, wer über die Täter hinaus institutionell Verantwortung getragen hat, etwa für Vertuschung oder die Versetzung von Tätern.

März 2019: Nach intensivem Ringen beschließen die deutschen Bischöfe einen „verbindlichen Synodalen Weg“, um nach dem Missbrauchsskandal Vertrauen zurückzugewinnen und nach den systemischen Ursachen des Missbrauchs zu fragen.

September 2019: Die Bischöfe beschließen in Fulda, die Entschädigung von Opfern neu zu regeln und deutlich auszuweiten. Über die Höhe der Entschädigung und die Frage, ob das Geld aus Kirchensteuern bezahlt werden soll, kommt es zu einer heftigen Debatte. Eine von der Bischofskonferenz eingesetzte Arbeitsgruppe hatte Entschädigungen von bis zu 400.000 Euro empfohlen.

September 2019: Das Institut für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt (IPA) in Lantershofen nimmt seine Arbeit auf. Als „think tank“ soll das kirchliche Institut Akteure im Kampf gegen Missbrauch vernetzen, bisherige Maßnahmen auf den Prüfstand stellen und nach neuen Ideen etwa im Bereich der Fortbildung Ausschau halten.

November 2019: Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, und der Trierer Bischof Stephan Ackermann einigen sich auf Eckpunkte zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Demnach soll die Aufarbeitung in den katholischen Bistümern transparent und nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Auch sollen unabhängige Experten an dem Prozess teilnehmen.

Dezember 2019: Spitzenvertreter aus Politik und Zivilgesellschaft nehmen an der Auftaktsitzung eines Nationalen Rates zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch teil. Er soll die Strukturen für Schutz, Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche dauerhaft sichern.

Dezember 2019: Die Bischofskonferenz veröffentlicht erneut verschärfte Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen und kündigt an, einen Betroffenenbeirat einzurichten.

Dezember 2019: Papst Franziskus schafft das „Päpstliche Geheimnis“ bei der Verfolgung von Missbrauchsfällen ab. Eine Instruktion löst die bislang geltende strengste Verschwiegenheitspflicht bei kirchlichen Strafrechtsverfahren wegen Sexualdelikten ab, etwa sexuelle Handlungen mit Minderjährigen, Besitz und Verbreitung von kinderpornografischem Material sowie Vertuschung.

Januar 2020: Zehn Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche in Deutschland bitten die deutschen Bischöfe um Geduld bei der weiteren Aufarbeitung. Die aus der jüngsten Missbrauchs-Untersuchung, der sogenannten MHG-Studie, erwachsenen Vorhaben bräuchten Zeit zur Bearbeitung, hieß es am 28. Januar. Zu diesen Vorhaben zählen die Bischöfe unter anderem ein „verbindliches überdiözesanes Monitoring für die Bereiche der Aufarbeitung, Intervention und Prävention“, standardisierte Personalakten von Klerikern sowie „die Fortentwicklung des Verfahrens zur materiellen Anerkennung erlittenen Leids“.

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530

Zehn Jahre Missbrauchsskandal - Forderung nach mehr Schutz: Auch zehn Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche sehen Politik und Experten weiter großen Handlungsbedarf in allen Bereichen der Gesellschaft. Nach wie vor seien die Zahlen von Missbrauchsfällen erschreckend hoch. Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO gehen davon aus, dass eine Million Kinder in Deutschland Missbrauch erlebt haben oder erleben.
Experten der vom Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, einberufenen Kommission zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch mahnten dazu, zurückliegende Fälle umfassend aufzuarbeiten. In vielen Institutionen fehle es weiterhin an Verantwortungsübernahme und Anerkennung für das Unrecht, das Betroffene erleiden mussten. Besonders schwierig sei die Situation für Betroffene, die als Kinder oder Jugendliche in der Familie sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Seit 2016 haben sich den Angaben zufolge fast 2.000 Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs in Familien und Institutionen sowie andere Zeugen für eine vertrauliche Anhörung bei der Aufarbeitungskommission angemeldet. Davon wurden bereits 1.200 angehört, rund 400 Betroffene reichten einen schriftlichen Bericht ein. Die Kommission untersucht sämtliche Formen sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR.

Unser Gesprächspartner: Pater Klaus Mertes SJ wurde am 18.08.1954 in Bonn-Bad Godesberg geboren und wuchs zunächst bedingt durch den Beruf seines Vaters in Marseille, Paris und Moskau auf. 1973 machte er Abitur am Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg und trat im Herbst 1977 in den Jesuitenorden ein. Nach dem Studium von Philosophie, Theologie und pastoralen Praktika wurde er am 4. Oktober 1986 im Frankfurter Dom zum Priester geweiht. Anschließend legte er die 1. und 2. Staatsprüfung in den Fächern Latein und katholischer Religion in Frankfurt ab. 1990 begann er als Lehrer in der St. Ansgar Schule in Hamburg, 1993 bis 2011 unterrichtete er am Canisius Kolleg in Berlin, das er ab dem Jahre 2000 auch als Rektor leitete. Seit September 2011 war er Direktor das Kollegs St. Blasien im Südschwarzwald.
Klaus Mertes wurde einer größeren Öffentlichkeit durch die Veröffentlichung eines Briefes bekannt, den er am 20. Januar 2010 an die Opfer von Missbrauch durch zwei Jesuiten in den 1980er-Jahren und 1970er-Jahren am Canisius Kolleg schrieb. Klaus Mertes war 2007-2017 Chefredakteur der Zeitschrift JESUITEN, ist Autor mehrerer Bücher und vieler Artikel, seit 1. Januar 2018 Mitglied der Redaktion der vom Jesuitenorden herausgegebenen Kulturzeitschrift „Stimmen der Zeit“. Er ist Mitglied im Kuratorium der Stiftung 20. Juli 1944 und Berater des Vorstandes der Katholischen Elternschaft Deutschlands. In mehreren Veröffentlichungen versuchte er eine katholisch geprägte Schulpädagogik von der Inspiration der jesuitischen Exerzitien her neu zu formulieren.

Die „Gesellschaft Jesu“: Der Jesuitenorden ist die größte männliche Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche. Gründer der „Gesellschaft Jesu“, so die offizielle Bezeichnung in Anlehnung an den lateinischen Namen „Societas Jesu“ (SJ), ist der Spanier Ignatius von Loyola (1491-1556). Unter der Devise „Alles zur größeren Ehre Gottes / Omnia ad majorem Dei gloriam” beschloss er die Gründung einer religiösen Gesellschaft. Nach einer Pilgerfahrt ins Heilige Land besuchte er die Hochschulen von Barcelona, Alcala und Salamanca, zuletzt in Paris und gründete hier mit Gesinnungsgenossen den Jesuitenorden, den er bedingungslos dem Papst unterstellte. Nach seiner Priesterweihe in Venedig wurde Ignatius durch Papst Paul II. mit der Bulle „Regimini militantis ecclesiae“ („Der Leitung der streitenden Kirche“) zum Generaloberen der am 27. September 1540 bestätigten Ordensgemeinschaft. Charakteristisch war eine für damalige Verhältnisse hochkarätige Ausbildung, die über das Studium der Theologie hinausging. Ignatius selbst musste sich dafür mehrfach vor der spanischen Inquisition rechtfertigen, verbrachte mehrere Monate im Gefängnis. Umstritten von Anfang an, expandierte der im Zeitalter der Gegenreformation wichtige Orden (Motto: „Gott in allem finden“) auch nach Südamerika und Asien.
Bei seinem Tod am 31. Juli 1556 zählte der Orden bereits mehr als 1.000 Mitglieder in über 100 Niederlassungen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der einflussreiche Orden aus immer mehr europäischen Ländern gewaltsam vertrieben. Papst Klemens XIV. veröffentlichte 1773 das Aufhebungsdekret. 1814 erfolgte durch Papst Pius VII. die Wiedergründung der Gesellschaft Jesu mit der päpstlichen Bulle „Sollicitudo omnium ecclesiarum”. Ordensgründer Ignatius, der in der Kirche II Gesù in Rom begraben ist, wurde 1622 heiliggesprochen; sein Fest wird am 31. Juli gefeiert.
Jesuiten sind keine Mönche; sie führen kein Klosterleben und tragen keine Ordenskleidung. Neben Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam verpflichten sie sich in einem vierten Gelübde zu besonderem Gehorsam gegenüber dem Papst. Zudem legen sie ein Zusatzversprechen ab, nicht nach kirchlichen Ämtern zu streben. An der Spitze der Gesellschaft Jesu, die in 125 Ländern vertreten ist, steht ein Ordensgeneral mit Sitz in Rom. Der Orden ist in 85 Provinzen eingeteilt, die jeweils von einem Provinzoberen, dem Provinzial, geleitet werden. Im Interesse einer hohen Mobilität leben die Jesuiten nicht ortsgebunden in Klöstern, sondern entsprechend ihrer Aufgaben und Einsatzgebiete in ordenseigenen Einrichtungen und Häusern, die wiederum einen Hausoberen haben. Ihre römische Hochschule, die „Gregoriana“, ist die renommierteste unter den Päpstlichen Universitäten. Der derzeitige Papst Franziskus ist der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri. 2016 wurde der Politikwissenschaftler Pater Arturo Sosa Abascal SJ (67) aus Venezuela zum 31. Generaloberen des Ordens gewählt. Internet: www.jesuiten.de.

Die Deutsche Provinz: 1540 kam Peter Faber als erster Jesuit nach Deutschland, der erste deutsche Jesuit war Petrus Canisius. 1544 gründete sich in Köln die erste Jesuitenkommunität und 1556 entstanden die ersten beiden deutschen Provinzen. 1872 wurden die Ordensangehörigen durch das Jesuitengesetz aus dem Deutschen Reich vertrieben, gründeten jedoch Ausbildungshäuser in den Niederlanden und Großbritannien oder gingen in Missionen in die skandinavischen Länder, die USA, nach Südbrasilien, Indien, Rhodesien und Japan. 1917 wurde das Verbot in Deutschland aufgehoben. Die bereits durch den Ordensgründer erkannte Bedeutung der Bildung setzten sie wieder in der Gründung von Schulen um. Heute sind in der Deutschen Provinz (Bundesrepublik sowie Dänemark und Schweden) rund 450 Mitglieder vor allem als Lehrer und Hochschullehrer, Schriftsteller, Seelsorger oder Publizisten tätig (Österreichische Provinz: 100, Schweizer Provinz: 80). Sie arbeiten an den Kollegien in Berlin, Bad Godesberg und St. Blasien, den Hochschulen in Frankfurt (Main), München und Innsbruck, in der Jugend und Studentenseelsorge, Gemeindepastoral, Bildungs-, in Beratungs- und Exerzitientätigkeit und als Herausgeber mehrerer Zeitschriften. Kontakt: Provinzialat Deutsche Provinz der Jesuiten, Seestraße 14, 80802 München, E-Mail: provinzialat.ger@jesuiten.org, Tel. 089 / 38185-241, Internet: www.jesuiten.org. Mehr: Jesuiten in Deutschland, Jesuit werden

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