Verantwortung global

von Stefan Klinkhammer

Mittwoch, 31.08.2022

Pirmin Spiegel, Copyright MISEREOR, Collage: KIP
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Pirmin Spiegel, Copyright MISEREOR, Collage: KIP

Misereor hat es wiederholt angemahnt und noch einmal auf den Punkt gebracht: Schluss mit der Energie- und Agrarpolitik auf Kosten des globalen Südens. Es gibt Wege aus den aktuellen weltweiten Ernährungskrisen. Und die Ökumene hat hier eine große Aufgabe.

INFO: Misereor lud am Dienstag, 23. August 2022, zu seiner diesjährigen Bilanz-Pressekonferenz ins Haus der Bundespressekonferenz in Berlin. Zu Themen wie „Deutsche Energie- und Agrarpolitik auf Kosten des globalen Südens“, „Millionenfache Verletzung des Rechts auf Nahrung“, „Wege aus den aktuellen weltweiten Ernährungskrisen“ sowie zu Einnahmen und Ausgaben sprachen: Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von Misereor, Prälat Dr. Karl Jüsten, Vorsitzender der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe und Leiter des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin, Prof. Dr. Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

Nicht auf Kosten anderer leben: Dabei appellierte Misereor an die Bundesregierung, deutsche und europäische Interessen nicht auf dem Rücken benachteiligter Menschen im globalen Süden durchzusetzen. Die Ursachen für die Klima- und Hungerkrisen seien auch in der europäischen Finanz- und Handelspolitik zu suchen, kritisierte Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel: „Die von Weltbank, IWF und verschiedenen Geldgebern seit Jahrzehnten vorangetriebene Exportorientierung in von Hunger betroffenen Ländern geht zu Lasten der Nahrungsmittelproduktion für deren eigene Versorgung. Zudem hat Deutschland für die Absicherung des hohen Energiebedarfs Europas in Ländern des Südens die Nutzung von Landflächen für den Export von Agrartreibstoffen bzw. den dafür notwendigen Rohstoffen vorangetrieben, was dort die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten weiter vergrößert“, so Spiegel. 

Misereor setzt sich dafür ein, dass der Welthandel auf allen Feldern fair und insbesondere für Bäuerinnen und Bauern auskömmlich gestaltet wird. „Wir wenden uns dagegen, dass wohlhabende Nationen zur Deckung ihres vermeintlichen 'Bedarfs' in der Regel eigene Interessen durchsetzen. Wir fordern einen konsequenten Schutz von Menschen in benachteiligten Ländern des Südens gegen Landnahmen.“ Dazu gehöre die Beendigung öffentlicher Kredite, Bürgschaften und weiterer öffentlicher Förderinstrumente für großflächige Agrar- und Bergbauinvestitionen auf Kosten kleinbäuerlicher Landwirtschaft. „Wir erwarten entschiedene, effektiv regulierende Maßnahmen zur Eindämmung von Spekulationen auf Agrarmärkten, auf denen zum Schaden ärmerer Bevölkerungsgruppen auf steigende Lebensmittelpreise gewettet wird. Das kann in der Konsequenz bedeuten, bestimmte Agrarfinanzgeschäfte auszusetzen oder Handelslimits einzuführen“, so der Misereor-Chef.

Den eigenen Wohlstand zu Lasten anderer zu sichern, sei nicht zukunftsfähig. Mit Sorge sehe Misereor, dass Deutschland auf der Suche nach alternativen Gaslieferanten beabsichtigt, etwa mit dem Senegal Lieferverträge zu schließen, die in dem Land die Nutzung fossiler Ressourcen womöglich auf viele Jahre hinaus zementieren. „Müsste stattdessen der Senegal nicht dabei unterstützt werden, seine Strukturen bei der Erzeugung erneuerbarer Energien auszubauen?“, fragte Spiegel. Ein ebenso problematisches Signal gehe von der Absicht der Bundesregierung aus, verstärkt Steinkohle aus Kolumbien einzukaufen, obwohl bei deren Förderung nachweislich Umwelt- und Menschenrechtsstandards massiv verletzt werden. „So sieht kein nachhaltiger, an Fairness orientierter Klima- und Menschenrechtsschutz aus!“

Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte betonte angesichts der weltweiten Ernährungskrisen die Bedeutung des Menschenrechts auf Nahrung für die deutsche Politik: „Handels-, Wirtschafts- und Klimapolitik sind am Menschenrecht auf Nahrung auszurichten. Das ist menschenrechtlich geboten und liegt auch im wohlverstandenen Interesse Deutschlands“. Das Menschenrecht auf Nahrung verpflichte die Staaten der EU, gemeinsam mit den Staaten des Globalen Südens und den betroffenen Menschen wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung von Hunger zu ergreifen. „Deutschland sollte hier eine Führungsrolle einnehmen“, so Rudolf. 

Der Vorsitzende der Katholischen Zentralstelle für Entwicklungshilfe (KZE), Karl Jüsten, äußerte die Sorge, dass die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit durch krisenbedingte Kurzfristigkeiten in den Hintergrund geraten könnte. Das sei kontraproduktiv. „Die gegenwärtige Ausgangslage ermutigt autokratische Regime und Warlords, ihr Unwesen weiterzutreiben - mit unabsehbaren Folgen für deren Gesellschaften. Größere Migrationsbewegungen und eine Zunahme der Armut könnten daraus folgen.“ Eine Kürzung von entwicklungspolitischen Ausgaben verlagere Krisenbewältigung in die Zukunft und sei verantwortungslos. Gleichzeitig machte sich Jüsten dafür stark, dass ein Teil des Sondervermögens für die Bundeswehr in zivile Konfliktbearbeitung investiert wird.

Misereor-Bilanz: Misereor hat im vergangenen Jahr mit 63,1 Millionen Euro etwas weniger an Spenden erhalten als im Jahr 2020: 3,8 Millionen Euro. Insgesamt standen Misereor 2021 einschließlich der Gelder aus Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 247 Millionen Euro zur Verfügung, die für Projekt-, Bildungs-, Advocacy- und Lobbyarbeit in aktuell 86 Ländern Afrikas und des Nahen Ostens, Asiens und Ozeaniens, Lateinamerikas und der Karibik sowie in Deutschland eingesetzt werden. Aktuell unterstützt MISEREOR mehr als 3100 Projekte, die von rund 1800 Partnerorganisationen umgesetzt werden. Weitere Informationen: Zum Jahresbericht, Zu den Statements

Misereor - weltgrößtes katholisches Entwicklungshilfswerk: Misereor mit Sitz in Aachen wurde 1958 von den deutschen katholischen Bischöfen auf Vorschlag des damaligen Kölner Kardinals Josef Frings als Aktion gegen Hunger und Krankheit in der Welt gegründet, um „den Mächtigen der Erde, den Reichen und Regierenden vom Evangelium her ins Gewissen zu reden“. Der Name bezieht sich auf das im Markus-Evangelium überlieferte Jesuswort „Misereor super turbam / Ich erbarme mich des Volkes“. Erste Anregungen für eine regelmäßige Kollekte für Entwicklungsprojekte kamen zuvor von katholischen Laienorganisationen und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK). Ziel der mit Partnern in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika geleisteten Arbeit ist die Hilfe zur Selbsthilfe, aber auch die Schärfung des Bewusstseins für die Ursachen von Armut und Unterentwicklung, von Not und Ungerechtigkeit in den Entwicklungsländern. Seit seiner Gründung hat das Hilfswerk laut eigenen Angaben rund 112.000 Projekte mit weit mehr als 7 Milliarden Euro unterstützt. Derzeit arbeitet Misereor mit 1.900 Partnerorganisationen in 3.000 laufenden Projekten in gut 90 Ländern zusammen. MISEREOR ist Mitglied im Bündnis Entwicklung Hilft: www.entwicklung-hilft.de.

MISEREOR-Spendenkonto: 10 10 10, Pax Bank Aachen, BLZ 370 601 93, IBAN DE75 3706 0193 0000 1010 10, BIC GENODED1PAX; Internet: www.misereor.de, MISEREOR-Blog: www.misereor.de/blog; Twitter: www.twitter.com/misereor; Facebook: www.facebook.com/misereor

Ökumenischer Tag der Schöpfung: Anlässlich der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) vom 31. August bis zum 8. September 2022 feiert die ACK in Deutschland den zentralen Ökumenischen Tag der Schöpfung am international begangenen Schöpfungstag, dem 1. September 2022, mit Christinnen und Christen aus Karlsruhe, Baden-Württemberg und der ganzen Welt.
Das Motto des diesjährigen Ökumenischen Tags der Schöpfung lehnt sich an das Tagesmotto der Vollversammlung des ÖRK an: „Die Liebe Christi bewegt, versöhnt und eint die Welt" sei einerseits eine verheißende Zusage, dass Gottes Handeln in der Welt und an der Schöpfung mächtig ist, andererseits führe es aber auch das menschliche Versagen vor Augen, das erheblichen Anteil daran hat, dass die Schöpfung leidet. Daher sei die Zusage auch immer eine Aufgabe an die Menschheit, die Schöpfung Gottes zu bewahren, zu versöhnen und zu einen. Die zentrale Feier des Ökumenischen Tags der Schöpfung 2022 findet am Donnerstag, 1. September 2022, in Karlsruhe statt. Mehr: https://www.oekumene-ack.de/themen/glaubenspraxis/oekumenischer-tag-der-schoepfung/2022/

Unser Gesprächspartner: Pimin Spiegel, Jahrgang 1957, stammt aus dem rheinland-pfälzischen Großfischlingen. Nach dem Studium der Philosophie und Theologie, das ihn u.a. 1981 auch ins brasilianischen Piauí führte, wurde er 1986 zum Priester geweiht und war bis 1990 Kaplan und Pfarradministrator in Kaiserslautern und CAJ-Kaplan des Bistums Speyer. 1990 ging er für 13 Jahre als Missionar und Pfarrer von drei Pfarreien mit 67 Gemeinden im brasilianischen Bundesstaat Maranhão in Lima Campos (Bistum Bacabal, Brasilien). 2004-2010 war Spiegel wieder Pfarrer in Deutschland in Blieskastel-Lautzkirchen, ging aber 2010 erneut nach Brasilien, um in verschiedenen Ländern Lateinamerikas in der Ausbildung und Begleitung von Laienmissionaren zu arbeiten. 2012 wurde Pirmin Spiegel Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des Bischöflichen Hilfswerkes Misereor und von Papst Benedikt XVI. zum päpstlichen Ehrenkaplan (Monsignore) ernannt.

Mittwoch, 31.08.2022