70 Jahre Montan-Union

von Christof Beckmann

Montag, 09.05.2022

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Robert Schuman (1886-1963), Collage KiP-NRW

Robert-Schuman-Straßen gibt es nicht nur in Aachen, Dortmund oder Köln. Benannt sind sie nach dem „Vater Europas”. Am Anfang stand eine Vision der Montan-Union: Sie trat vor 70 Jahren in Kraft. Und wieder ist der 9. Mai der Europatag. Und die Zeitenwende?

INFO: Am 9. Mai 1950 erklärt der französische Außenminister Robert Schuman völlig überraschend, dass Frankreich den ersten Schritt für den Aufbau Europas mache - zusammen mit Deutschland. Damit kam das, was die internationale Presse am 9. Mai 1950 im Uhrensaal des französischen Außenministeriums am Quai d'Orsay miterlebte, fünf Jahre nach dem verheerenden Krieg einem Wunder gleich. „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen“, erklärte Schuman und stellte einen Plan vor, der die Brüche und Wunden europäischer Geschichte heilen sollte.
Der von Jean Monnet maßgeblich mitausgearbeitete Vorschlag, an deren Anfang die deutsch-französische Aussöhnung stehen sollte, stellte die Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder Montanunion) vor, die ein Jahr später, am 18. April 1951 ratifiziert wurde, vor 70 Jahren, am 23. Juli 1952 als erste supranationale Organisation weltweit in Kraft trat und den Grundstein der heutigen Europäischen Union bilden sollte.
Beim Mailänder Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs 1985 wurde auf Anregung des Adonnino-Ausschusses beschlossen, zur Erinnerung an dieses Ereignis am 9. Mai jedes Jahres den Europatag der Europäischen Union zu begehen, an dem nun seit 1986 zahlreiche Veranstaltungen und Festlichkeiten stattfinden.

Robert Schuman: Wie kaum ein anderer verkörperte Jean-Baptiste Nicolas Robert Schuman selbst die Brüche und Wunden, die sich die Staaten Europas bis dahin zugefügt hatten. Am 29. Juni 1886 in einer lothringischen Familie in Luxemburg geboren, studierte er zunächst Jura in Berlin, Bonn, München und Straßburg, schloss sich dort dem katholischen Studentenverband Unitas an. Nach seiner Promotion eröffnete er 1912 eine Anwaltskanzlei in Metz. Nach dem Ende des Krieges und der Abtrennung des zuvor deutschen Elsass-Lothringen war er französischer Staatsbürger. Fortan setzte er sich als Mitglied der Nationalversammlung für eine gemäßigte Eigenständigkeit Elsass-Lothringens ein, leitete 1929-1936 als Präsident die Elsass-Lothringen-Kommission und wurde 1940 zum Unterstaatssekretär für Flüchtlingsfragen ernannt. Er trat kurz darauf unter dem Vichy-Regime zurück, wurde im September 1942 von der Gestapo verhaftet, zunächst in Metz inhaftiert und schließlich nach Neustadt deportiert. Nach zwei Jahren Haft gelang ihm die Flucht. Er versteckte sich in Klöstern, nahm Kontakte zur Résistance auf. Nach Kriegsende wurde Schuman Finanzminister (1946/47), Ministerpräsident (1947/48) und bis 1952 Außenminister. Hier setzte er sich für die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ein, unterstützt die gleichberechtigte Behandlung Deutschlands innerhalb der westeuropäischen Staatengemeinschaft und erntete dafür von gaullistischer Seite harte Kritik. Die 1953 in Kraft getretene und von Schuman beeinflusste „Straßburger Konvention für Menschenrechte und bürgerliche Grundfreiheiten” ist heute in 26 europäischen Staaten für 500 Millionen Menschen gültig und prägte entscheidend die geistigen Grundlagen des KSZE-Prozesses. Das Parlament der im März 1958 begründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wählte ihn zu seinem ersten Präsidenten und machte Schuman zwei Jahre später zum Ehrenpräsidenten, für seine Verdienste um Europa wurde er 1958 mit dem Karlspreis geehrt. Am 4. September 1963 starb Robert Schuman im Alter von 77 Jahren im lothringischen Scy-Chazelles bei Metz.

Robert Schuman, der in seiner ganzen Lebenshaltung aus benediktinischem Geist lebte und an keinen Tag die Hl. Messe versäumte, gilt als Vorbild für den Ausdruck moralischer Werte in der Politik. Sein Seligsprechungsprozess wurde 2004 in seiner Heimatdiözese Metz abgeschlossen und ging weiter an den Vatikan. Papst Johannes Paul II. (1978-2005) nannte Schuman 1988 vor dem Europaparlament ein „ewiges Vorbild für alle Verantwortlichen am Aufbau Europas“. Auch Papst Franziskus hat immer wieder an das Wirken des französischen Staatsmannes und „Vater Europas” erinnert. Noch Ende Oktober 2020 warb er für eine verbesserte Zusammenarbeit und stärkere Eintracht in Europa und berief sich ausdrücklich auf das Erbe Robert Schumans. In einem offenen Brief an den vatikanischen Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin (Wortlaut) rief Papst Franziskus anlässlich der 50-jährigen Zusammenarbeit zwischen dem Heiligen Stuhl und den europäischen Institutionen dazu auf, in der aktuellen Krisenzeit „den Weg der Geschwisterlichkeit zu wählen ... der zweifellos die Gründerväter des modernen Europa, angefangen bei Robert Schuman selbst, inspiriert und beseelt hat”, so der Papst. Mit der Promulgation der Beschlüsse der zuständigen Kongregation hat Papst Franziskus am 19. Juni 2021 einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Seligsprechung von Robert Schuman (1886-1963) getan. Bereits die in der französischen Zeitung „La Croix” veröffentlichten ersten Nachrichten dazu hatten Anfang April 2021 für Aufsehen gesorgt. Mehr über Robert Schuman

Virtuelle Ausstellung zum 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung: https://www.europeana.eu/de/exhibitions/70th-anniversary-of-the-schuman-declaration

Der Wortlaut der Schuman-Erklärung

„Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines Vereinten Europas macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt.

Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muss in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen.

Zu diesem Zweck schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern - die erste Etappe der europäischen Föderation - und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind.

Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfasst, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen.

Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerlässlich ist und das Ferment einer weiteren und tieferen Gemeinschaft der Länder einschließt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren.

Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist.

Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgenden Grundlagen aufzunehmen.

Die der gemeinsamen Hohen Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzustellen: die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien.

Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschiedenen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkehrungen getroffen werden, und zwar: die Anwendung eines Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichsmechanismen und die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds, der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsniveau gewährleisten. Im Gegensatz zu einem internationalen Kartell, das nach einer Aufteilung und Ausbeutung der nationalen Märkte durch einschränkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoher Profite strebt, wird die geplante Organisation die Verschmelzung der Märkte und die Ausdehnung der Produktion gewährleisten.

Die Grundsätze und wesentlichen Vertragspunkte, die hiermit umrissen sind, sollen Gegenstand eines Vertrages werden, der von den Staaten unterzeichnet und durch die Parlamente ratifiziert wird. Die Verhandlungen, die zur Ausarbeitung der Ausführungsbestimmungen unerlässlich sind, werden mit Hilfe eines Schiedsrichters geführt werden, der durch ein gemeinsames Abkommen ernannt wird. Dieser Schiedsrichter wird darüber zu wachen haben, dass die Abkommen den Grundsätzen entsprechen, und hat im Falle eines unausgleichbaren Gegensatzes die endgültige Lösung zu bestimmen, die dann angenommen werden wird.

Die gemeinsame Hohe Behörde, die mit der Funktion der ganzen Verwaltung betraut ist, wird sich aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammensetzen, die auf paritätischer Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemeinsames Abkommen wird von den Regierungen ein Präsident gewählt, dessen Entscheidungen in Frankreich, in Deutschland und den anderen Teilnehmerländern bindend sind. Geeignete Vorkehrungen werden Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidungen der Hohen Behörde gewährleisten. Ein Vertreter der Vereinten Nationen bei dieser Behörde wird damit beauftragt, zweimal jährlich einen öffentlichen Bericht an die Organisation der Vereinten Nationen zu erstatten, der über die Tätigkeit des neuen Organismus, besonders was die Wahrung seiner friedlichen Ziele betrifft, Rechenschaft gibt. Die Einrichtung einer Hohen Behörde präjudiziert in keiner Weise die Frage des Eigentums an den Betrieben. In Erfüllung ihrer Aufgabe wird die gemeinsame Hohe Behörde die Vollmachten berücksichtigen, die der Internationalen Ruhrbehörde übertragen sind, ebenso wie die Verpflichtungen jeder Art, die Deutschland auferlegt sind, so lange diese bestehen.“

Mehr zum Thema auf den Webseiten der EU: https://europa.eu/european-union/about-eu/symbols/europe-day/schuman-declaration_de

Memoclip: „History of a Treaty“ des Europäischen Parlaments zur Historischen Erklärung von Robert Schuman vom 9. Mai 1950. Darin schlug er u.a. die „Montanunion” vor, die vor 70 Jahren in Kraft trat. Seit 1985 wird aus diesem Grund der Europatag begangen.

Montag, 09.05.2022