Klar und wahr: Verantwortung übernehmen

von Christof Beckmann

Freitag, 19.03.2021

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Bild: KiP-NRW

Großer Andrang gestern in Köln - vor Ort und online: Das Erzbistum lud zur Pressekonferenz. Öffentlich wurde sie übertragen und stellte vor, was viele erwartet hatten: Ein erstes umfassendes Gutachten zu Missbrauchsfällen ...

INFO: Seit Monaten beschäftigt das Thema nicht nur die kircheninterne Öffentlichkeit. Gestern hat das Erzbistum Köln ein neues Missbrauchsgutachten vorgestellt. Die Pressekonferenz, in der die Untersuchung des Strafrechtlers Björn Gercke vorgestellt wurde, war ab 10.00 Uhr öffentlich unter www.erzbistum-koeln.de sowie unter www.domradio.de zu sehen, direkt danach konnten Mitglieder des Betroffenenbeirats die Untersuchung einsehen, die anschließend auf der Internetseite der Erzdiözese veröffentlicht wurde und dort abrufbar ist. Ein erstes im März 2020 fertiggestelltes Gutachten einer Münchner Kanzlei war im Herbst vergangenen Jahres nicht öffentlich gemacht worden. Erzbischof Woelki nannte es fehlerhaft und nicht rechtssicher, Juristen des Erzbistums hätten es geprüft und schwere methodische Fehler festgestellt. Kritiker warfen dem Kardinal mangelnden Aufklärungswillen vor, zahlreiche Bürger bemühten sich um Termine für einen Austritt aus der katholischen Kirche. Woelki selbst räumte in einem Hirtenbrief an die Gemeinden Fehler bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle ein. Auch bei der Krisenkommunikation habe er Schuld auf sich geladen, bat aber auch um Verständnis für seine Vorgehensweise.

Das Gutachten: Das mit derselben Aufgabenstellung beauftragte und am 18. März vorgestellte zweite Gutachten der Anwaltskanzlei Gercke & Wollschläger trägt den Titel „Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen des Erzbistums Köln im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und Schutzbefohlenen durch Kleriker oder sonstige pastorale Mitarbeitende des Erzbistums Köln im Zeitraum von 1975 bis 2018. Verantwortlichkeiten, Ursachen und Handlungsempfehlungen“. Beteiligt waren an dem in fünf Monaten erstellten rund 900-seitigen Gutachten – des ersten, das in dieser Ausführlichkeit vorgelegt wurde - der Stafrechtler Prof. Dr. Björn Gercke, die Fachanwältinnen für Strafrecht Dr. Kerstin Stirner und Dr. Corinna Reckmann, Rechtsanwalt Max Nosthoff-Horstmann sowie Prof. Dr. Dr. Helmuth Pree und Dr. Stefan Korta, die mitarbeiteten bzw. einbezogen wurden. Leitfragen der Untersuchung: In welchem Umfang gab es Fälle sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln zwischen den Jahren 1975 bis 2018? Wurden die Missbrauchsfälle von den Verantwortlichen – gemessen an den zum Zeitpunkt ihrer Bearbeitung geltenden Rechtsnormen und am kirchlichen Selbstverständnis – adäquat behandelt? Lag der fehlerhaften Behandlung von Missbrauchsfällen erkennbar die Absicht zugrunde, die Vorgänge zu vertuschen? Hat die fehlerhafte Behandlung von Missbrauchsfällen systemische Gründe? Die empirische Untersuchung auf Grundlage der Aktenlage wurde durch Anhörungen und informativen Befragungen der Verantwortungsträger ergänzt.

Die Ergebnisse: Zu den Ergebnissen zählen nach der mündlichen und schriftlichen Darstellung der Juristen: „Chaos“ in Aktenführung und in den Zuständigkeiten, unklare und widersprüchliche Normen, „ausgesprochene Rechtsunkenntnis“, Intransparenz, mangelndes Problembewusstsein, „unkoordiniertes, ja planlose Handeln“, keine Kontrollmechanismen und Überforderung bei den Verantwortlichen. In den Bereichen Aufklärungspflicht, Anzeige- und Informationspflicht, Sanktionierung, Verhinderungspflicht und Opferfürsorge wurden 236 Akten aus der Zeit von 1975-2018 untersucht. Die meisten Verdachtsfälle beinhalteten ein Tatgeschehen vor 1975 sowie erst mehr als 20 Jahre nach der angegebenen Tatzeit gemeldete, insbesondere seit dem Jahr 2010.

Beschuldigte waren zu 63,3 Prozent Kleriker, zu 33 % Laien, zu 4% Einrichtungen, Betroffen waren 119 männliche und 38 weibliche Opfer, (k.A.: 17). Nach Alter waren 173 unter 14 Jahre alt (55,1%), 43 waren 14-15 Jahre alt, 59 waren 16-17 Jahre alt. Die Vorwürfe betrafen verbale Grenzverletzungen (30), Grenzverletzung körperlicher Nähe (53), sexuellen Missbrauch (100), schweren sexuellen Missbrauch (48) sowie sonstige sexuelle Verfehlungen, unbestimmte und ungeklärte Angaben mit sexuellem Hintergrund: „Die Untersuchung zeigt, dass ein großer Teil der Verdachtsfälle (82 von 314) ein Missbrauchsgeschehen im Rahmen privater Treffen zwischen den Beschuldigten und den Betroffenen beschreiben. Auf die Kinder- und Jugendbetreuung entfallen 56 Verdachtsfälle. Darüber hinaus konnten 34 Verdachtsfälle dem Bereich Heim- oder Internatsunterbringung, 39 Verdachtsfälle dem Bereich Schule/Unterricht, 29 Verdachtsfälle dem Bereich Ausflüge/Ferienfreizeiten und 22 Verdachtsfälle dem Bereich sonstiger kirchlicher Kontext zugeordnet werden.“ (S. 53)

314 Verdachtsfälle wurden im Rahmen von insgesamt 254 kirchlichen Untersuchungsverfahren bearbeitet. Eine Anhörung von betroffenen erfolgte in 125 Fällen, in 114 Fällen ist sie nicht dokumentiert. Nur in wenigen kirchlichen Untersuchungsverfahren (45 von 254) wurden dem jeweiligen Beschuldigten ein Verdachtsfall mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen. Im Rahmen der 177 kirchlichen Untersuchungsverfahren gegen Kleriker sind insgesamt 203 Maßnahmen dokumentiert. Insgesamt 69 Maßnahmen wurden im Rahmen der 68 Verfahren gegen Laien ergriffen, die - anders als bei Klerikern - häufig aus dem Arbeitsverhältnis entfernt wurden.

Die Zuarbeit von Seiten der Mitarbeiter des Erzbistums sei ohne Rücksicht auf Verantwortliche und prominente Namen erfolgt, so die Gutachter. Grundlage waren die zu dem jeweiligen Zeitpunkt jeweils geltenden staatlichen und kirchlichen Rechtsnormen. Danach gab es bei 108 keine Hinweise auf Verletzungen dieser Pflichten, 104 mögliche, aber nicht sichere Verletzungen sowie 24 mit eindeutigen Pflichtverletzungen bei acht lebenden und inzwischen verstorbenen Verantwortlichen. Die nach „sehr strengen Maßstäben“ erfolgte Bewertung von Verletzungen betreffen nach Personen: Kardinal Höffner (8), Kardinal Meisner (24), Kardinal Woelki (keine) sowie die drei früheren Generalvikare Feldhoff (13), Schwaderlapp (8) und Heeße (11). Offizial Günter Assenmacher werden zwei Fälle zugeordnet, Mitarbeitern der mittleren Ebene in Personal und Justiziariat 10.

Folgerungen: Nach Prof. Gercke gab es „keine systematische“, aber eine „systembedingte und systeminhärente Vertuschung durch Einzelne“. Handlungsempfehlungen der Anwaltskanzlei Gercke & Wollschläger aus juristischer Sicht: Klärung der strukturellen, rechtlichen Rahmenbedingungen, Fortentwicklung der universalen Kirchenordnung, Stärkung des Kirchenstrafrechts, Vereinheitlichung der Rechtsanwendung, Stärkung einer unabhängigen Interventionsstelle, Klärung der Zuständigkeiten, turnusgemäße Berichtspflicht, Verbesserung der Aktenführung und der Opfernachsorge.

Personale Konsequenzen: Unmittelbar nach der Vorstellung der Untersuchung von Strafrechtler Björn Gercke enthob der selbst weitgehend entlastete Erzbischof Rainer Maria Woelki den Kölner Weihbischof und früheren Generalvikar Dominikus Schwaderlapp vorläufig seines Amtes. Auch Günter Assenmacher, der seit 25 Jahren das Kirchengericht leitet und dem Gercke unzutreffende Rechtsauskünfte in zwei Fällen vorwarf, wurde vorerst beurlaubt. Weihbischof Dominikus Schwaderlapp (53), bis 2012 acht Jahre lang Generalvikar unter dem ehemaligen Kölner Erzbischof, räumte Fehler ein und bot Papst Franziskus seinen Rücktritt an. Norbert Feldhoff (81), 1975 bis 2004 Generalvikar in Köln, erklärte, er nehme die Anschuldigungen an und zog sich aus dem Priesterrat des Erzbistums zurück. Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße, ab 2006
Personalchef und von 2012 bis 2015 Generalvikar im Erzbistum Köln, hat am Donnerstagnachmittag Papst Franziskus seinen Amtsverzicht angeboten und um sofortige Entbindung von seinen Aufgaben gebeten. Nachtrag: Auch der jetzige Weihbischof Ansgar Puff (65), ehemaliger Leiter der Hauptabteilung Seelsorge Personal, hat den Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki gebeten, ihn vorläufig zu beurlauben. Das Gutachten der Kanzlei Gercke Wollschläger stellte zu seiner Amtszeit einen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht fest. Puff tue dies bis zur Klärung der Umstände, um eine sachgerechte Bewertung der benannten Pflichtverletzung zu ermöglichen. Der Kardinal hat dieser Bitte entsprochen und Weihbischof Puff am Freitagmittag vorläufig von seinen Aufgaben beurlaubt.

Strukturelle Konsequenzen: Am Donnerstagabend erklärte Kardinal Woelki im Interview der ARD-Tagesthemen", die weitere Aufarbeitung von Missbrauch im Erzbistum unabhängigen Stellen zu überlassen und sich selbst herauszuhalten. Künftig solle es eine unabhängige Kommission geben, die auch von außen die Aufarbeitung begleiten und leiten werde. Zugleich wolle das Erzbistum in der kommenden Woche seinen Beraterstab zum sexuellen Missbrauch um eine unabhängige Gruppe erweitern. Diese Kommission werde festlegen, wie die Aufarbeitung zu erfolgen habe und es weitergehen solle. Bereits am Montag hatte das Erzbistum Details zur geplanten Kommission bekannt gegeben, die mit Betroffenen, Experten aus Wissenschaft, Fachpraxis, Justiz und öffentlicher Verwaltung sowie Kirchenvertretern besetzt werden soll. Die Mitglieder werden nach der Ankündigung mehrheitlich vom Land Nordrhein-Westfalen und den Betroffenen benannt. Mit dem Land und dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, gebe es bereits Gespräche.

Nächste Entscheidungen am 23. März: In den kommenden Tagen wollen Kardinal Rainer Maria Woelki, Generalvikar Markus Hofmann sowie Strafrechtler Gercke das Papier in verschiedenen Gremien des Erzbistums vorstellen. Am Dienstag, 23. März, sollen in einer zweiten Pressekonferenz die „Konsequenzen aus dem Gutachten“ präsentiert werden.

Mehr im Internet: Gutachten der Kanzlei Gercke & Wollschläger; Erzbistum Köln: https://www.erzbistum-koeln.de/

LINKS: Der Missbrauchsskandal erschüttert die katholische Kirche weiter in ihren Grundfesten. Seit 2010 die ersten Fälle in Deutschland bekannt wurden, steckt die Kirche in der Aufarbeitung. Zur Themenseite Missbrauch auf www.Katholisch.de. Weitere Informationen der Deutschen Bischofskonferenz für Betroffene von sexuellem Missbrauch und ihre Angehörige, Leitportal Prävention in der Katholischen Kirche in Deutschland

Beiträge der Kirchenredaktion: „Schluss damit“, die „Wahrheit muss ans Licht“, „Aufklären, Handeln, Konsequenzen ziehen“ – so der durchgehende Tenor zum Thema in den vergangenen Jahren. Hier einige Links, die auch in den Beiträgen in unserem Programm zum Stand der Dinge berichteten:

10.03.2014: Vor der Frühjahrs-Vollversammlung der Bischofskonferenz
11.03.2014: Katholische Bischöfe tagen in Münster
12.03.2014: Vollversammlung Deutsche Bischofskonferenz
16.03.2014: Bischofskonferenz mit neuem Vorsitzendem
15.11.2014: Kirche: Für eine Kultur der Achtsamkeit
25.09.2018: Missbrauch und Prävention
28.09.2018: Mahnender Mühlstein in Münster
17.02.2019: Vatikan-Gipfel: Harte Themen
17.03.2019: Nach der Bischofskonferenz
25.07.2019: Jakobus: Auf synodalem Weg
15.09.2019: Kirche auf dem Weg
15.09.2019: Ordensleute für Kirchenreformen
23.09.2018: Kommentar: Auf Treu und Glauben
29.09.2019: Bischofskonferenz hat getagt
06.02.2020: Pater Mertes zieht Bilanz
28.02.2021: Kirche auf hartem Kurs
14.03.2021: Nachrichten aus der Kirche

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